Entwicklung

Der Stammbaum des Shotokan Karate


Versucht man einmal die Geschichte der Kampfkünste, und hier besonders des Karate, zu erforschen, so wird man feststellen, dass man sich da auf ein mehr als schwieriges Unterfangen eingelassen hat. Immer wieder wird man Unstimmigkeiten und Widersprüchen gegenüberstehen; soweit man überhaupt auf verlässliche Informationen trifft.

Der Grund hierfür liegt wohl größtenteils darin, dass die alte Kunst des Karate über Jahrhunderte lang im Geheimen geübt werden musste. Da die jeweiligen Herrscher auf der Insel Okinawa dem Volk ein striktes Waffenverbot auferlegt hatten, waren die Menschen dort gezwungen, sich mit anderen Mitteln zu verteidigen. Aus der Not heraus entstand die Kunst des „Te“, was einfach nur 


„Hand“ bedeutete:

Durch seine geographische Lage, genau zwischen dem chinesischen Kontinent und Japan gelegen, fand auf Okinawa schon immer ein reger Kulturaustausch zwischen beiden Völkern statt. Die Folge war, dass auch viele chinesische Meister der Kampfkunst nach Okinawa kamen. Deren Einflüsse vermischten sich über eine lange Zeit mit den schon bestehenden Kampfformen der Insel.


Der Grundstein wird gelegt:

So traf Kushanku um 1761 auf Okinawa ein, wo er bald der Lehrer von Shugo Sakugawa wurde. Diese beiden Männer legten den Grundstein für die heute in der Welt außerhalb Japans am meisten verbreitete Karateform: Das Shotokan. So geht die Kata Kanku-Dai auf Kushanku zurück und existiert, wenn auch in verschiedenen Variationen und Namen, in vielen Karatestilen Okinawas. In der Folgezeit des 18. Jahrhunderts entstanden auf Okinawa viele verschiedene Auffassungen vom Karate, da jeder Meister die Lehren seiner Vorgänger ein wenig anders interpretierte. 

Da aber Okinawa eine ziemlich kleine Insel ist, vermischten sich diese unterschiedlichen Ausführungsvarianten immer wieder, da die jeweiligen Meister sich trotz des strengen Verbots aller Kampfübungen natürlich kannten.


Der Heilige des Faustschlages:

Um die Grundrichtungen jedoch einordnen zu können, verband man sie mit den Namen der Gegenden, in denen sie geübt wurden. So lassen sich auf „Karate“, Sakugawa das Shuri-Te und das Tomari-Te zurückführen. Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich parallel dazu das Naha-Te, dass Kanryu Higashionna, genannt „Der Heilige des Faustschlages“, aus den Lehren des Chinesen Waichinzan schuf. Diese Schule, auch als „Shorei-Ryu“ bezeichnet, betont die Atmung und ist besonders durch langsame und kräftige Bewegungen gekennzeichnet. Dagegen zeichnet sich das „Shorin Ryu“ (Shuri-Te und Tomari-Te) vor allem durch schnelle und starke Bewegungen aus. Meister des Shuri-Te war Sokon Matsumura, der vom König Okinawas den ehrenvollen Titel „Bushi“ für seine Verdienste um die Kampkünste verliehen bekam. „Bushi“ bedeutet Krieger und war die höchste Auszeichnung, die einem Nichtadligen zuteilwerden konnte.


Gichin Funakoshi:

Unter Matsumura lernten Yasutsune ltosu und Anko. Beide waren Hauptlehrer von Gichin Funakoshi. Meister Funakoshi wurde im Jahre der Meiji-Restauration 1869 geboren, ein Jahr, das für das gesamte japanische Leben grundlegende Änderungen brachte. So war der Feudalismus der tausend Jahre alten Samurai-Herrschaft abgeschafft, und das Verbot, sich in den Kampfkünsten zu üben, wurde bald aufgehoben. Dennoch fand das Training von Meister Funakoshi bei seinen Lehrern stets nachts im Geheimen statt. Von Azato, dem engsten Schüler Matsumuras, lernte er die Geheimnisse des Shuri-Te, während Itosu auch die Techniken des Tomari-Te lehrte, das Kosaku Matsumora ihm beigebracht hatte.


Nur ein Karate auf Okinawa:

Neben diesen beiden Meistern, die wohl das Wesen seines Karate prägten, hatte Sensei Funakoshi später, während seiner Zeit als Schullehrer in Naha, auch Gelegenheit mit Meister Higashionna zu trainieren, wodurch der Einfluss des Naha-Te zu erklären ist, der in einigen Kata zu erkennen ist, die Funakoshi lehrte. Außerdem wird berichtet, dass er mit dem Meister Niigaki aus dem Tomari-Te und mit Meister Kiyunna, einem weiteren Schüler von „Bushi“ Matsumura, trainierte. So ist zu verstehen, dass Meister Funakoshi sich immer gegen eine Klassifizierung des Karate in Stilrichtungen wehrte. Seiner Meinung nach gab es nur ein Karate auf Okinawa. Im Alter von 53 Jahren wurde Funakoshi ausgewählt, vor dem späteren Kaiser Japans, Hirohito, die erste öffentliche Vorführung des Karate zu geben, die es je gab.


Karate kommt nach Japan:

Ein Jahr später, 1922, ging er dann nach Tokio, um anlässlich einer großen Vorführung der Kampfkünste das Karate vorzustellen. Eigentlich wollte Funakoshi Sensei sofort nach dieser Demonstration nach Okinawa zurückkehren, aber auf Rat Jigoro Kanos hin, dem Begründer des modernen Judo, blieb er in Japan, um die Kunst des Karate dort weiter zu verbreiten. Er hat seine Heimatinsel niemals wiedergesehen. 

Nach einigen Jahren hatte er eine Gruppe von Studenten um sich gesammelt, die er das Karate lehrte. 1936 konnte man dann in das erste Dojo umziehen, das eigens für Karate gebaut worden war. Funakoshis Schüler brachten über der Tür des Dojos eine Tafel an, mit der Inschrift SHOTOKAN, was bedeutet: „Halle des Shoto“. „Shoto“ war Funakoshis Künstlername, unter dem er Gedichte und Kalligrafien verfasste - es bedeutet „Rauschen in den Kiefernwipfel“.


Gigo Funakoshi:

Ein Großteil des Trainings im Shotokan wurde schon bald von Funakoshis drittem Sohn, Yoshitaka, auch Gigo genannt, übernommen. Damit vollzog sich eine von vielen Veränderungen, die das Karate Funakoshis erfuhr. Yoshitaka hatte eigene Vorstellungen, die oft zu Meinungsverschiedenheiten mit seinem Vater führten. So gehen die tiefen Stellungen, in der Form, wie sie heute geübt werden, wohl auf Yoshitaka zurück. Eigenartigerweise ist Yoshitaka heute kaum noch bekannt, obwohl er in den vierziger Jahren zu den fähigsten Karate-Meistern zählte. Leider starb er 1945.

Das Shotokan Dojo zerstört:

In diesem Jahr musste Meister Funakoshi noch einen weiteren, derben Schicksalsschlag hinnehmen. Durch einen der letzten Luftangriffe der Amerikaner auf Japan wurde das Shotokan-Dojo völlig zerstört. Da Funakoshi Sensei schon fast achtzig Jahre alt war, wurde das Training im Dojo und an den Universitäten von den älteren Sempai geleitet. Darunter waren Genshin Hironishi, Shigeru Egami und Isao Obata. Doch die meisten der Universitätsstudenten drängten darauf, das Karate auch in Zweikämpfen zu trainieren. Aber der alte Meister lehnte dies über lange Zeit strikt ab.


Einführung des Kumite:

Erst Anfang der vierziger Jahre wurde unter dem Druck auch von Yoshitaka das Gohon-Kumite und später das Sanbon- und Ippon-Kumite eingeführt. Einer der Studenten, die am ärgsten auf die Einführung von Kumite-Formen drängte, war Masatoshi Nakayama. Er war in den dreißiger Jahren bereits Schüler im Karate-Dojo der Takushoku-Universität unter Funakoshi gewesen. Danach war er jedoch nach China gegangen, um die 13 Formen des chinesischen Kempo zu erlernen. Erst nach Ende des Krieges kehrte er nach Tokio zurück und wurde von Miyata Minoru mit dem Shotokan, wie es inzwischen gelehrt wurde, vertraut gemacht.


Japan Karate Association:

Mit Hidetaka Nishiyama und Masatomu Takagi gründete Nakayama im Jahre 1949 an der Takushoku-Dai die Japan Karate Association (JKA). Sensei Funakoshi wurde zum Ehrenausbilder ernannt, hat aber nie für die JKA gelehrt. Nakayama Sensei formte in diesem neuen Verband einen Kader von vielversprechenden jungen Karateka, die als Instruktoren Kurse bekannt wurden. Mitglieder dieses Kaders waren heutige Großmeister wie Kanazawa Shihan, Enoeda Shihan und Tsuyama Shihan, die in der Folgezeit das Shotokan-Karate, wie es nun offiziell genannt wurde, in der ganzen Welt bekannt machten. 

Bereits 12 Jahre vorher hatten die alten Sempai um Meister Funakoshi einen eigenen Verband gegründet, den Nihon Karate-Do Shotokai, „Die Vereinigung der Funakoshi-Schüler“. Funakoshis sogenanntes „Menkjo Kaiden“ (die verbriefte Nachfolgerrolle) erhielt Enoeda Shihan und nicht, wie oft verbreitet Masatoshi Nakayama!


Shotokan geht um die Welt:

Doch im Gegensatz zur JKA war diese Verbindung außerhalb Japans nie sehr aktiv und eher zurückhaltend. Dennoch haben sich noch im Nachhinein viele große Karate-Meister diesem Verband angeschlossen bzw. stehen ihm nahe, so Sensei Kase und auch Sensei Tetsuji Murakami, der 1958 in Deutschland, auf Einladung von Jürgen Seydel Sensei als erster Japaner Karate unterrichtete. Auf Einladung des Karate Pioniers Henry Plee kam er nach Frankreich und gründete ein Dojo in Toulouse. Hier trainierte Jean Pierre Malmary Shihan, bevor er nach Deutschland wechselte und dort sein Dojo gründete. Einzig seine Meisterschüler sind Dieter und Norbert Haas. Beide haben sich den sportpolitischen Wirren entzogen, um sich auf das Lehren des Karate Do zu konzentrieren und schlossen sich in der „Familie San do kan“ (das Haus der drei Wege) zusammen!


Die JKA indes schickte ihre Top-Instruktoren in die ganze Welt, die dort die jeweiligen Landesverbände gründeten. So kam Nakayama Shihan nach Deutschland, dessen Nachfolger Hideo Ochi Shihan ist.

Doch schon bald begann die Einheit der JKA zu bröckeln. So ging Nishiyama Shihan nach Amerika und gründete seinen eigenen Verband. In der Mitte der siebziger Jahre nun verließ wohl einer ihrer größten Lehrer die JKA. Kanazawa Shihan (9. DAN), der immer als Nachfolger von Nakayama Shihan angesehen wurde, gründete mit den Meistern Asano, Miura, Nagai, Kawasoe und Koga den Shotokan Karate International-Verband (SKI).

Tatsächlich ist es heute soweit, dass sich zwei Gruppierungen im Rechtsstreit in Japan befinden, wer den offiziellen Namen „JKA“ tragen darf. Schade drum.



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